Pythagoras und das Ende
der göttlichen Harmonie

Oder: Die Entdeckung der unendlichen Zahlen

Die Mathematik war zur Zeit der Pythagoräer weniger eine abstrakte Wissenschaft aus reinen Zahlen. Die Lehre der reinen Zahlen, die Arithmetik, machte ihre entscheidenden Entwicklungen nicht in Griechenland, sondern in Indien, welches u.a. das Ursprungsland der Zahl Null und unserer heutigen sogenannten "arabischen" Ziffern ist.

Die Mathematik der Griechen stand ständig mit dem realen, beobachtbaren Leben in Verbindung. Für die Pythagoräer unterteilte sich die Mathematik in vier Teilbereiche (die sogenannten Mathemata): Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik (Harmonielehre).

Die Astronomie basierte seiner Zeit (und noch lange Zeit danach) im wesentlichen auf geometrische Vermessungsmethoden. Die Harmonielehre der Pythagoräer basierte auf Entdeckungen wie jene, das die Längenverhältnisse von auf Oktavenintervalle gestimmten Harfensaiten mit natürlichen Zahlen beschreibbar sind.

Zusammen mit den Entdeckungen in der Geometrie galt die Harmonielehre als Beweis dafür, dass das Universum sozusagen komplett in natürlichen Zahlen beschreibbar ist (eine Auffassung, welche inspirierend die Kabbala gewirkt haben dürfte). Die Pythagoräer konnten daher den Bruchzahlen keine Wertschätzung entgegenbringen und stellten daher Brüche als sogenannte "rationale" Zahlen dar. "Ratio" bedeutet "Verhältnis" und genau als solches wurden Brüche dargestellt: 1:2 oder 3:4 oder auch 6:3, allesamt Verhältnisse von Natürlichen Zahlen.

Man kann sich vorstellen, dass sich die Pythagoräer sicher waren, den Schlüssel zur Wahrheit in der Hand zu haben. An den Pythagoräern lässt sich zumindest ein gewichtiger Vorläufer unseres heutigen, allgemeingebräuchlichen Wahrheitsbegriffes festmachen. Im Folgenden ein knapper Abriss der Griechischen Wahrheitsbegriffe (man sehe mir die Grobheiten und wüsten Sprünge nach):

Pythagoras wird die Erfindung der Methode der Deduktion zugeschrieben, dem Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere. Kurz: Wenn ich das einem Phänomen zugrundeliegendes Prinzip verstanden habe, kann ich eine Regel aufstellen, die jederzeit auf das gleiche Phänomen mit eventuell anderen Messwerten wieder anwendbar ist: Die berühmte Allgemeingültigkeit.

Eine praktische Erfindung diese Allgemeingültigkeit, denn Sie erspart einem Arbeit. Aber ich muss mich auch drauf verlassen können. Die Allgemeingültigkeit der Regel muss erst einmal bewiesen werden. Andernfalls währe die Regel zunächst einmal eine Unterstellung (Hypothese). Die Beweisführung ist eine weitere Errungenschaft die Pythagoras zugeschrieben wird.

Eine Regel muss sich also als "beweisbare" Wahrheit bewehren (der Beweis muss wiederholbar sein). Die Formulierung einer systematisierten Stütze für die Gültigkeit einer Regel ist erst von Aristoteles überliefert, mit der Methode der Induktion: Wenn ich an ausreichen Beispielen beobachtet habe, das Wildgänse gern Löwenzahn fressen, kann ich drauf schließen, dass dies auf alle Wildgänse zutrifft.

Wenn diese "Wahrheit" tatsächlich für die Praxis taugen soll, kann es zu jeder Hypothese jeweils nur eine Wahrheit geben (sonst währe es keine Regel). Folgerung: Eine Aussage ist entweder wahr oder falsch. Sie kann nicht gleichzeitig war und falsch sein. Ausformuliert wurde dies von Aristoteles (Methode des "Syllogismus"), war jedoch schon ein Gemeinplatz schon unter Vorsokratikern. Berühmt das Beispiel: 1. Alle Menschen sind sterblich. 2. Sokrates ist ein Mensch. 3. Sokrates ist sterblich.

Damit sind wir an einen Wahrheitsbegriff gelangt, der absolut ist: Die berühmte "absolute Wahrheit". Und "absolute Wahrheiten" waren die geeigneten Bausteine für eine, dem Profanen verschlossenen "göttlichen Ordnung", welche die Gelehrten noch weiter zu erkunden trachteten.

Und ebensolche "absoluten Wahrheiten" waren für die Pythagoräer auch die Zahlen. Jede Zahl ließ sich als problemlos von einem System auf jedes beliebige andere und von dort aus jederzeit in die Wirklichkeit (etwa bei der Geometrie) übertragen. Sie waren in sich abgeschlossene Einheiten, mit einem eindeutigen Wert. Das alles war bewährt und bewiesen. So schien es.

Tatsächlich waren es die Pythagoräer die einen ersten Schritt jenseits der Rationalität machten. Aber das geschah sicher nicht freiwillig, sondern eher zufällig: Bei der Bewältigung eher alltäglicher geometrischer Aufgaben tauchten Zahlen auf, die sich nicht mehr richtig darstellen ließen. Etwa: Gegeben ein Quadrat mit den Seitenlängen 1. Eine Diagonale teilt das Quadrat in zwei rechtwinklige Dreiecke. Folglich müsste die Diagonale den Wert haben?

Wie aber sollte man als Zahl darstellen? Dies war die Entdeckung der Irrationalen Zahlen, bzw. der "nicht messbaren Strecken".
Wir haben uns längst an sie gewöhnt, an diese Dezimalbrüche, die der Taschenrechner nach der siebten Dezimalstelle aufrundet. Für die Pythagoräer waren sie eine derartige Katastrophe, dass sie zunächst versuchten, die Entdeckung unter den Tisch zu kehren. Denn bislang hatten die Pythagoräer jede Zahl als etwas eindeutiges, jederzeit darstellbares, vollkommenes und in sich Abgeschlossenes betrachtet. '
Irrationale Zahlen sind jedoch nur annäherungsweise darstellbar: Mit zunehmenden Dezimalbruch-Stellen genauer und von deshalb auch gewissermaßen unendlich. Irrationale Zahlen lassen sich weder als ganze Zahlen, noch als Brüche mit Zähler und Nenner, noch als periodische Dezimalbrüche darstellen.

Die Entdeckung vernichtete einen Glaubenssatz, der längst als bewiesen galt: Das Postulat von der Kontinuität der Zahlen in einer stetigen unendlichen Progression Nach diesem Postulat sind alle denkbaren Zahlen als eine aufeinanderfolgende Reihe auf einer Geraden, wie auf einem Lineal, darstellbar: 1, 2, 3, 4, 5, (...). Zwischen je zwei Natürlichen Zahlen befand sich eine quasi unendliche Anzahl von Rationalen Zahlen, so dass kein Punkt auf dem fiktiven Lineal unbezeichnet blieb. Wo aber gehörten nun aber die Irrationalen Zahlen hin? Die "absolute Wahrheit" der Zahlen war vernichtet. Die Vorstellung der göttlichen Harmonie war gestört.

Warum war die Vorstellung von der Harmonie und Schönheit so außerordentlich wichtig? Man trachtete danach, den Plan der Schöpfung und damit dem Schöpfer (dem Demiurg, der die Welt und die Götter durch Neuordnung aus dem Chaos erschaffen hat) zu verstehen (was man unter anderen Bedingungen ähnlich auch heute noch versucht), nicht zuletzt um dem Schöpfer näher zukommen.

Nun muss man die außerordentliche Bedeutung, den die Religion für den Staat im Altertum spielte, in Betracht ziehen, welche das dazugehörige ethische System von Sitte und Rechtschaffenheit (bzw. die Ideale davon, welche die Philosophen anstrebten), die auf dem Fundament der Religion ruhten. Und somit kommen wir auf das Problem von "gut" und "böse".

Schon bei den Ägyptern gab es keinen Zweifel daran, dass die Schöpfer-Götter (Ptah, Atum, Chnum) ausnahmslos nützliche Dinge schufen. Sie schufen den Menschen mit nützlichen Eigenschaften, wie einem Mund um zu essen, Augen um zu sehen, etc. und statteten die Welt mit Dingen aus, die dem Menschen zu nutzen sein sollten. Der Schöpfer, der zweifellos "gut" war, konnte nichts "Unnützes" schaffen.

"Gut" ist für den Griechen, wenn nicht profan "nützlich", so doch auf jeden Fall "schön", das heißt "geordnet" und "harmonisch" und letztendlich wohl gar dem Waisen "verständlich". Aus dem Verständnis ließe sich, so könnte man erwarten, wiederum Nutzen ableiten. Denn die göttliche Ordnung würde etwa das geeignete Vorbild der idealen gesellschaftlichen Ordnung bieten (Plato - "Der Staat"). Insofern durfte der "gute" Schöpfer nichts "schlechtes" schaffen (vor allem dann, wenn er die Welt "nach seinem eigenen Bilde" schuf ).

Zumindest sollte man in einer wahrlich "göttlichen Ordnung" mit glatten Ergebnissen rechnen können. Irrationale Zahlen sind ein Zeichen von Chaos und das kann Gott nicht gewollt haben. Oder anders herum: Ein chaotischer Gott kann schwerlich den Patron für einen geordneten Staat abgeben (der ja im Idealfalle seinerseits zu einem Abbild der göttlichen Ordnung fügen sollte).

Ein solcher "Gott" ist in Wahrheit allenfalls in Titan aus dunkler Zeit, dem man noch sein Heiligtum auf seiner Heimatinsel gelassen (fürs niedere Volk) hat oder der sich hinterrücks in schmucker Gewandung in den Olymp einschleicht, wenn er nicht längst schon diese volkstümelnde Sammlung von Schundliteratur (einem gewissen Homer zugeschrieben) durchstreift und seine Intrigen spinnt (widerwärtig so was).

Aus solchen Irritationen mögen sich - neben den gesellschaftlichen Entwicklungen - Tendenzen entwickelt haben, die (wie Plato) das reine Denken über die empirische Beobachtung stellen. Für die göttliche Ordnung, die sich vormals so sanft an die Beobachtung der Wirklichkeit zu schmiegen schien, musste nun die Welt der reinen und unveränderlichen Ideen herhalten, deren Manifestationen in der Realität letztlich nur vergängliche Degenerationen darstellten.

Derartige Modelle (die ebenfalls wieder in der Kabbala auftauchen) sind wiederum hervorragend geeignet, sich mit alt überlieferten mythischen Vorstellungen verbinden, etwa vom göttlichen Ursprung der Menschen, um sich neu zu formulieren als der göttliche Ursprung der Seele, welche gefangen und geprüft im irdischen Körper und nach Erlösung dürstend.

Hätten die Pythagoräer ahnen können, wie weit die menschliche Vorstellungskraft sich noch entwickeln würde, wenn sie erleben könnten, wie die unglaublichsten Kapriolen der Mathematik (welche eigentlich immer noch nur den Anspruch einer Gruppe hypothetischer Systeme hat) tatsächlich als naturwissenschaftliche Werkzeuge dienen... sie sähen ihre urtümlichste Theorie bestätigt, jene, dass das Universum allein mit den Mitteln der (wenn auch nicht rationalen) Zahl erklärbar sei. Nur beweisen könnten sie es immer noch nicht.

Wurzel aus 2 Wurzel aus zwei